Am 8. Mai 2025 jährt sich zum achtzigsten Mal das Datum der Kapitulation des Deutschen Reichs und damit das Ende des zweiten Weltkriegs. Dieses Datum ist Anlass zahlreicher Erklärungen und Feierlichkeiten geworden. Zum einen soll den Deutschen wieder das Bild der „Alliierten“ als der „Befreier“ in Erinnerung gerufen werden. Alle offiziellen Termine und Reden werden von dem Tenor bestimmt sein, den schon die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag prägte: „Wir wollten erinnern – gemeinsam mit Vertretern der Alliierten aus dem Westen und aus dem Osten, die diesen Kontinent – unter größten Opfern – befreit haben.“ Zum anderen soll die aktuelle Kriegspolitik mit dem Vermächtnis des Kampfes gegen den Faschismus verbunden werden. Olaf Scholz: „Dieser Tag mahnt uns: Wir müssen Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat schützen und verteidigen – jederzeit.“
Teil 1 (erschienen in der „Sozialen Politik & Demokratie“ Nr. 524 vom 3. März 2025)
Alle diese Erklärungen zum 8. Mai beruhen auf der These von der Kollektivschuld des deutschen Volks am Faschismus. Was sie verschweigen, ist dass die Machtergreifung des Faschismus von der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen und der Errichtung eines Terrorregimes begleitet war.
Bis zum Kriegsausbruch wurde etwa eine Million Menschen wegen ihrer oppositionellen Haltung von der Gestapo verhaftet. Von Hunderttausenden hat man nie wieder etwas gehört.
„Etwa 600.000 Menschen ganz überwiegend aus dem Widerstand der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung wurden von 1933-1939 in die KZs geworfen“ (Weisenborn, Der lautlose Aufstand).
Die These von der Kollektivschuld des deutschen Volks am Faschismus …
… wird auch dadurch widerlegt, dass der Zusammenbruch des Nazi-Regimes verbunden war mit der spontanen Bildung aller möglichen Formen von politischen Organisationen auf hohem politischem Niveau. Sie waren alle davon geprägt, dass sie die politische Konsequenz aus den Erfahrungen ziehen wollten, die die Arbeiterschaft mit der Niederlage gegenüber dem Faschismus erlebt hatte. Besonders ging es dabei um die Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung. Ein gutes Beispiel für ihr „Programm“ ist die schon ein Jahr vor Kriegsende von den politischen Häftlingen des KZ-Buchenwald angenommene Plattform: „1. Vernichtung der faschistischen Diktaturen, 2. Bestrafung der Kriegs- und Terrorverbrecher, Wiedergutmachung allen Unrechts, 3. Errichtung einer deutschen Volksrepublik auf neuer demokratischer Grundlage, (…) 6. Verstaatlichung der Schwerindustrie, ausreichende Ernährung, Einführung der 40-Stundenwoche, Einheit der Sozialgesetzgebung.“
Die Formen dieser Neugründungen waren, wie schon genannt, vielfältig. So entstand am 25. Juni 1945 – d.h. wenige Tage vor der Ankunft der sowjetischen Besatzungstruppen – in Eisleben z.B. die »Partei der Werktätigen« (PdW). Zu ihr gehörten neben Sozialdemokraten und Kommunisten auch Anhänger der christlichen Arbeiterbewegung und ehemalige Mitglieder des ADGB, von denen einige in der Illegalität in der »Antifaschistischen Arbeitergruppe Mitteldeutschlands« und nach der Okkupation im »Antifaschistischen Bürgerausschuss« Eislebens mitgearbeitet hatten. In Dresden war eine Organisation unter dem Namen »Antifaschistischer Volksausschuss« entstanden, dem zwischen 20.000 und 50.000 Mitglieder angehörten. Schon im Jahr 1943 hatte sich in Leipzig ein „National Komitee Freies Deutschland“ herausgebildet und eine Gruppe, die nach ihren führenden Mitgliedern benannt wurde: die „Schumann-Engert-Kresse-Gruppe“. Letztere waren alles KPD-Mitglieder. Sie standen programmatisch im Widerspruch zu der Linie des Exil-Zentralkomitees in Moskau. Im Gegensatz zu Stalin und der unter seiner Kontrolle stehenden Exilgruppe der KPD schrieben Schumann und Engert: „So reifen in Deutschland in immer schnellerem Tempo die Bedingungen einer revolutionären Situation heran… Nicht nur Deutschland – ganz Europa steht am Vorabend einer gewaltigen Revolution“. (Juni 1944).
Vorabend einer gewaltigen Revolution
Tatsächlich bedeutete der Zerfall des Hitler-Regimes zugleich den Zusammenbruch des bürgerlichen Staats in Deutschland selbst, da dieser durch und durch mit dem Hitler-Regime verbunden war und praktisch die gesamte Bourgeoisie ihn unterstützt hatte. Das damit entstehende politische Vakuum begann sich in ganz Deutschland von Seiten der Arbeiterklasse durch die sich neu bildenden Ausschüsse und Komitees oder auch durch den Wiederaufbau von zunächst von den Parteiführungen unabhängigen Gruppen der alten Arbeiterparteien SPD und KPD zu füllen.
In der Direktive an den Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen in Deutschland (JCS 1067) vom April 1945 heißt es demzufolge ganz klar: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat. Ihr Ziel ist nicht die Unterdrückung, sondern die Besetzung Deutschlands, um gewisse wichtige alliierte Absichten zu verwirklichen.“ Die sich „spontan räteähnlich entwickelnden Antifas“ wurden von den US-Besatzungsbehörden, die zunächst den größten Teil Deutschlands kontrollierten, in den ersten Wochen der Besatzungszeit verboten. Wenige Tage nach der bedingungslosen Kapitulation wurden von der amerikanischen Besatzungsmacht alle politischen Organisationen und Gewerkschaften verboten; Verstöße wurden von Kriegsgerichten abgeurteilt. Aber nicht nur die Westalliierten verfolgten das Ziel der Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung: Auch von der sowjetischen Besatzungsmacht wurden die „Antifa“ Ausschüsse aufgelöst. Kommunisten aus der Sowjetisch Besetzten Zone berichteten z.B. darüber „… welche Kritik wir erfahren haben, als wir unseren programmatischen Aufruf vorgelegt haben, weil in diesem programmatischen Aufruf etwas von Sozialismus gesagt war. Dass wir gewisse sozialistische Ziele herausstellten, hat man uns schwer übel genommen… Marschall Schukow hat uns rundheraus erklärt, dass nur auf dieser demokratischen Basis die Entwicklung eines neuen Deutschlands möglich ist und er hat hinzugefügt, Deutschland sei in der gegenwärtigen Situation nicht reif für eine Sowjetisierung oder Bolschewisierung.“
Dass das Ziel, die deutsche Arbeiterschaft an der politischen Herrschaft über das neue Deutschland nach 1945 zu hindern, letztlich die Teilung Deutschlands, die Spaltung der deutschen Arbeiterklasse verlangte, wollen wir in Teil 2 dieses Artikels in der kommenden Ausgabe der Sozialen Politik & Demokratie darstellen.
Teil 2 (erschienen in der „Sozialen Politik & Demokratie“ Nr. 525 vom 21. März 2025)
„Deutschland wird nicht besetzt zum Zweck seiner Befreiung …
… sondern um es der Kontrolle der Alliierten Kontrollkommission von USA, England, Frankreich und Sowjetunion zu unterwerfen und so eine spontane revolutionäre Erhebung des arbeitenden Volkes zu verhindern.„
In der letzten Ausgabe der „Sozialen Politik & Demokratie“ haben wir damit begonnen darzustellen, dass die Behauptung, Deutschland sei 1945 von den Besatzungstruppen befreit worden, nicht der geschichtlichen Wirklichkeit entsprochen hat. Tatsächlich widersetzten sich alle Besatzungsmächte einer wirklichen Befreiung, die nur hätte bedeuten können, die Wurzeln für den Faschismus in Form der privatwirtschaftlichen, kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu beseitigen und, wie es das berühmteste Dokument dieser Zeit, das „Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald“, forderte, künftigen Gesellschaftskrisen „durch eine sozialistische Wirtschaft ein absolutes Ende“ zu setzen. Wie stark die die Hoffnungen und Bestrebungen der großen Mehrheit des Volkes und der Arbeiterschaft nach Freiheit, Demokratie und Sozialismus war, zeigt sich in den Politischen Richtlinien für die SPD“ vom Sommer 1945: „Aus dem Klassencharakter des Nazismus ergibt sich zu seiner Überwindung als Konsequenz: der Sozialismus. Die Voraussetzung ist die völlige Zerbrechung der finanzkapitalistischen, imperialistischen und militärischen Linie.“ Und selbst das Ahlener Programm der CDU von 1947 wird davon geprägt.
Betriebs- und Volksausschüssen zur Reorganisierung von Produktion und Verwaltung
In Deutschland existierte eine starke revolutionäre sozialistische Bewegung schon 1944, die ihren Ausdruck u.a. in den Betriebs- und Volksausschüssen fand – zur Reorganisierung von Produktion und Verwaltung – auch auf lokaler Ebene. Die Antwort der Alliierten im April (!) 1945: „Revolution wird nicht zugelassen“.
Der Wiederaufbau Deutschlands auf sozialistischer Grundlage erforderte eine Änderung der Eigentumsverhältnisse. Natürlich war die „US-Regierung nicht willens (…), auf die Restauration des Kapitalismus in dem von den drei Westalliierten besetzten Teil Deutschlands zu verzichten. Während die Unternehmerverbände zu einem sehr frühen Zeitpunkt wieder zugelassen wurden, war die Reorganisation der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei, ebenso wie die der Gewerkschaften, auf überregionaler Ebene verboten“ (aus: Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der SBZ, 04/1986).
Auch die Auslandsführung der KPD, die nach Deutschland zurückgekehrt war, setzte zunächst auf den Aufbau eines bürgerlichen Staats, um die spontane Bewegung in der Bevölkerung und vor allem der Arbeiterklasse zurückzudrängen. In dem „Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei an das deutsche Volk zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands vom 11. Juni 1945“ heißt es: „Wir sind der Auffassung, dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland“ (aus: Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der SBZ, 04/1986).
Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD
Eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung ihrer politischen Ordnung spielte die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ). Diese Aufgabe hatte die Führungsgruppe der KPD um Walter Ulbricht. Mithilfe der Besatzungsmacht wurden gemeinsame Versammlungen von KPD und SPD erzwungen, die die Gründung einer Einheitspartei abnicken mussten. Oppositionelle Sozialdemokraten wurden in der Presse angegriffen oder direkter Repression unterzogen. Nach Schätzungen wurden in der Zeit zwischen Dezember 1945 und April 1946 mindestens 20 000 Sozialdemokraten inhaftiert. Die Zwangsvereinigung wurde am 21. und 22. April 1946 schließlich mit einem „Festakt“ in Ostberlin vollzogen.
Die Unterdrückung der Betriebsräte
Im Herbst des Jahres 1945 begann die sowjetische Besatzungsmacht ihre Politik zu ändern. Der Druck zu einer Enteignung, der auch durch die Volksabstimmungen auf Länderebene zum Ausdruck kam, war weiter gewachsen. Ein Volksentscheid in Sachsen am 30.6.1946 ergab mit 77,6 % eine Mehrheit für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher. Ein Volksentscheid in Hessen etwas später ergab am 1.12.1946 ebenfalls eine Mehrheit mit 71,9 %, der aber keine Konsequenz hatte. Am 30.10.1945 erließ die Sowjetischen Militäradministration den Befehl 124. Er verfügte die Beschlagnahmung von Industrievermögen von ehemaligen Nationalsozialisten und von „herrenlosem“ Gut. Außerdem wurden alle privaten Banken und Sparkassen in die Verwaltung von Städten und Kreisen überführt. Die sowjetische Besatzungsmacht war in einer anderen Situation als die Westalliierten. Während die letzteren unmittelbar die militärische Macht des Imperialismus repräsentierten, die in der Logik des Erhalts des Systems des Privateigentums an Produktionsmitteln handelte, war die Sowjetarmee das Instrument der stalinistischen Bürokratie, deren Existenz an das soziale Eigentum gebunden war. Überall, wo die Sowjetarmee deshalb nach 1945 dauerhaft stationiert war, entstanden daher „bürokratische Arbeiterstaaten“, das heißt Staaten, in denen das Privateigentum aufgehoben, das soziale Eigentum aber von einer stalinistischen Bürokratie kontrolliert wurde.
Aber wer kontrollierte diese enteigneten Betriebe? Auf dieser Ebene konnte die Bürokratie nicht in der gleichen Form vorgehen wie gegenüber den Antifa-Ausschüssen und den Sozialdemokraten: „Die Leistungsbereitschaft der Arbeiter war (…) unerlässlich, um den fürchterlichen Mangel zu überwinden (…) Sie war zugleich unerlässlich für das Regime, das die Regierung der Arbeiterklasse sein wollte“ (Benno Sarel, Arbeiter gegen den „Kommunismus“, 1975). Aber auf der Ebene der Betriebe war die Bürokratie mit den Betriebsräten konfrontiert. Sie waren ebenfalls mit dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft und der Nazi-Führer der Betriebe spontan mit dem Ziel entstanden, die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion und den Wiederaufbau zu sichern. Die KPD zusammen mit den Behörden versuchten zunächst die Betriebsräte unter ihre Kontrolle zu bringen und zu gewinnen, was ihnen nicht gelang. Ab 1947 beschnitten sie ihre Rechte und lösten sie im November 1948 auf. „Das Übergewicht der Betriebsräte im Mai 1945 war das Symbol für die Einheit der Fabrikwelt gewesen – für den Versuch, eine freie Gesellschaft zu schaffen. Die Niederlage der Betriebsräte hingegen symbolisierte die totalitäre Entwicklung“ (ebd.). Die Unterwerfung der unabhängigen Arbeiterbewegung durch die stalinistische Bürokratie bot wiederum den Westalliierten und dem sozialdemokratischen Apparat die Möglichkeit, gegen die sozialistischen Bestrebungen in ihren Zonen vorzugehen. Doch letztlich war noch immer nicht die politische Stabilität Deutschlands und auch nicht die Restauration des bürgerlichen Staates im Westen gesichert.
Hier diktierten die drei westlichen Besatzungsmächte das Grundgesetz, doch entsprechende Zugeständnisse zur Kanalisierung der revolutionären Bewegung mussten im Grungesetz gemacht werden (keine Festlegung der wirtschaftlichen Ordnung, Definition als Sozialstaat (GG, Artikel 20 und 28); Zulässigkeit der Enteignung…) Im Osten diktierte die SED-Parteibürokratie die bürokratische Planwirtschaft von oben bis in die Betriebe hinein, mit Hilfe ihrer politischen Parteiorgane und-zellen, sowie durch die Organe der Staatsgewerkschaften.
Die Alliierten sprachen dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht* ab, um die imperialistische Ordnung in Deutschland (und über Europa) zu retten. Auch 1989 wurde dem deutschen Volk das Recht verweigert, auf wirklich demokratischer Grundlage, wie es das Grundgesetz vorsah (Verfassunggebende Versammlung) über seine soziale und wirtschaftliche Ordnung zu entscheiden. Der Kapitalismus überlebt.
Auf diese Situation wollen wir in einem weiteren Teil dieses Artikels in der kommenden Ausgabe der „Sozialen Politik & Demokratie“ zurückkommen.
H.F.
*) Eine Anmerkung: Das erinnert daran, dass heute das ukrainische wie das russische Volk in einem barbarischen Stellvertreterkrieg gemordet werden: Trump und Putin treten das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit Füßen, im Interesse des Imperialismus, der NATO sowie der Oligarchen-Regime unter Putin und Selenskyj. Die erste Entscheidung einer solchen (National-) Verfassunggebenden Versammlung in der Ukraine könnte nur die Enteignung des Privateigentums an Boden und Rohstoffen sein, um sie vor der räuberischen Ausbeutung durch den Imperialismus sowie der Putin-Selenskyj-Oligarchen zu schützen.