„Wie historisch bei der Zimmerwalder Konferenz müssen heute alle Kräfte an einen Tisch gebracht werden, die sowohl den Krieg als auch den sozialen Krieg im Innern ablehnen“

Interview mit Sevim Dagdelen, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages, außenpolitische Sprecherin des BSW

Du hast den europäischen Aufruf unterzeichnet: „Kein Cent, keine Waffe, kein Menschenleben für den Krieg“. Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, einen solchen europäischen Aufruf gerade jetzt zu unterzeichnen und zu veröffentlichen?

Die internationale Lage spitzt sich weiter zu. In Deutschland setzt die Große Koalition aus Union und SPD auf eine gigantische Aufrüstung, um einen Krieg gegen Russland führen zu können – finanziert durch die Zerschlagung des Sozialstaats.

Seit Februar 2022 hat Deutschland mehr als 50 Milliarden Euro Steuerzahlergeld für den Krieg  in der Ukraine ausgegeben. Allem voran für Waffen und Militär. Das sind im Schnitt rund 15 Milliarden pro Jahr! Nun hat SPD-Finanzminister Lars Klingbeil weitere 25 Milliarden für die nächsten drei Jahre zugesagt. Gleichzeitig wird eine Debatte vom Zaun gebrochen, wonach sich Deutschland angeblich den Sozialstaat nicht mehr leisten könne.

Die Finanzierung des Stellvertreterkriegs in der Ukraine steht in direktem Zusammenhang mit einer aggressiven Verarmungspolitik im Inneren. Die Arbeiter verlieren – die BlackRock-Aktionäre gewinnen. Dieser Krieg bedeutet auch eine massive Umverteilung von unten nach oben. 

Welche Möglichkeiten siehst Du, diesen Aufruf zu verbreiten? Siehst du Möglichkeiten für entsprechende Initiativen auf europäischer Ebene?

Wir brauchen eine weitere große europäische Konferenz – am besten eine ganze Reihe davon – in den Hauptstädten Europas. Wie historisch bei der Zimmerwalder Konferenz müssen heute alle Kräfte an einen Tisch gebracht werden, die sowohl den Krieg als auch den sozialen Krieg im Innern ablehnen.

Die deutsche Regierung unter Merz fördert gemeinsam mit der EU, mit Starmer und Macron die Eskalation des Kriegs in der Ukraine. Die Linkspartei hat die unbegrenzten Kriegskredite für die Regierung Merz zugestimmt, die die Waffenlieferungen an die Ukraine forciert. Die Mehrheit des Volkes ist gegen den Krieg. Auf welche politische Kraft kann sich die Widerstandsbewegungen stützen?

In Deutschland ist es das BSW, das als einzige Kraft den giftigen Politikmix aus Aufrüstung, Wirtschaftskrieg, Waffenlieferungen und der Zerschlagung des Sozialstaats konsequent zurückweist. 

Die führenden Politiker Deutschlands von Friedrich Merz bis Alice Weidel und alle Bundestagsparteien einschließlich der Linken unterstützen die Aufrüstung. Diese gigantische Aufrüstung ist der wesentliche Grund, weshalb der Sozialabbau eingeleitet wird. Jetzt kommt es darauf an, Bündnispartner zu gewinnen. Die gesellschaftlichen Mehrheiten dafür sind längst vorhanden.

Das BSW plant eine Demonstration am 13. 9. „Stoppt den Völkermord in Gaza! Keine Waffen in Kriegsgebiete! Frieden statt Wettrüsten!“ Was sagt das BSW zu der Ankündigung von Merz, keine Waffe an Israel zu liefern, die in Gaza eingesetzt werden können?

Friedrich Merz will die Öffentlichkeit mit seinem angekündigten Rüstungsstopp an Israel täuschen. Es geht ihm vor allem darum, nicht erneut vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu landen.

Der angekündigte Stopp betrifft lediglich neue Genehmigungen – nicht aber bereits genehmigte Waffen, laufende Lieferungen oder Projekte. Und auch die genehmigten Atomwaffenfähigen U-Boote bleiben außen vor. Auch die Lieferung von Matador-Panzerfäusten geht weiter. Diese Waffen werden beim Völkermord in Gaza eingesetzt.

Die Bundesregierung ist nach den USA der wichtigste Unterstützer der rechtsextremen Regierung Netanjahus. Das muss beendet werden. Im Bundestag fanden Anträge des BSW auf einen umfassenden Waffenstopp keinerlei Unterstützung – weder von der AfD noch von der Linkspartei. Die Grünen waren, wie so oft, besonders kompromisslos. Das gehört benannt.

In Deinen 5 Thesen zum Weltkrieg und Nato-Gipfel sprichst Du von der NATO-Aufrüstung für einen Drei-Fronten-Weltkrieg. Und von dem zwangsläufig mit einem gegen die eigene Bevölkerung verbundenen sozialen Krieg. Kannst Du dazu noch kurz etwas erläutern?

Haupttreiber der globalen Unsicherheit sind die USA und der “globale Westen”. Sie versuchen, ihren Niedergang durch Konfrontationen mit China, Russland und dem Globalen Süden aufzuhalten. Der Westen führt derzeit einen Vier-Fronten-Krieg – eine davon nun auch in Lateinamerika.

Erstens der NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine. Hier versuchen die USA, die finanzielle und militärische Hauptlast auf Europa, insbesondere Deutschland, abzuwälzen.

Zweitens die Herausforderungsstrategie gegenüber dem Hauptfeind China. Die USA setzen auf die militärische Aufrüstung von Nachbarstaaten, auf Unterstützung für Taiwan sowie auf die bilaterale Erweiterung der NATO. Beispiele sind das kürzlich geschlossene deutsch-japanische Rüstungsabkommen. 

Drittens der Völkermordkrieg Israels in Gaza und der Angriffskrieg gegen den Iran, der um die Vorherrschaft im Nahen Osten geführt wird – mit voller Rückendeckung der USA.

Und zuletzt jetzt die drohende US-Invasion in Mexiko und Venezuela – unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung. 

Zwar begrüßen wir diplomatische Initiativen zur Lösung des Ukraine-Krieges durch die US-Regierung. Gleichzeitig sehen wir aber, dass Washington die Eskalation weiter vorantreibt: durch die geplante Stationierung von US-Raketen in Deutschland, die Digitalisierung und Automatisierung der NATO (z. B. durch KI-Systeme wie „Project Maven“) und durch die Lieferung von Langstreckenraketen an die Ukraine. Auch hier sollen Verbündete wie Deutschland vorangehen – politisch wie militärisch.

Vorabdruck aus „Soziale Politik & Demokratie“, Nr. 535

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